R. Ammann: Die Genossenschafterin und religiöse Sozialistin Dora Staudinger

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Titel
Berufung zum Engagement?. Die Genossenschafterin und religiöse Sozialistin Dora Staudinger (1886–1964)


Autor(en)
Ammann, Ruth
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
von
Elisabeth Joris, freiberuflich

Das vorliegende Werk ist keine Biographie im herkömmlichen Sinn, sondern umfasst lediglich die Zeit bis zum Wegzug der 43-jährigen Dora Staudinger aus Zürich. Wie Ammann im einleitenden Kapitel darlegt, geht sie der Frage nach, wie Dora Staudinger sich «in den 1910er und 1920er Jahren als politisch aktive Frau in der sie umgebenden Welt positionierte, wie sie sie deutete und wie sie nach diesen Deutungen handelte» (S. 19). Als biografisches Quellenmaterial dienen der Autorin Tagebucheintragungen, Briefe und vor allem die vielen, mehrheitlich als Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichten Vorträge.

Von ihrem familiären Hintergrund her war Dora Staudinger für die Laufbahn als pazifistische und feministische Aktivistin nicht prädestiniert, und dennoch war er für die Art ihres Engagements prägend, wie Amman im Kapitel «Geografien des ‘Weiblichen’. Politische Subjektivität im Kulturkampf des späten Kaiserreichs 1906 bis 1912» überzeugend darlegt. Dora Förster war das jüngste Kind eines auch gesellschaftspolitisch konservativ ausgerichteten Pfarrhaushalts in Halle. Die Mutter Mina Förster war aus ihrem Selbstverständnis als Pfarrfrau in eine vielfältige gemeinnützige Tätigkeit auf lokaler Ebene eingebunden. Öffentlichkeit und Privatheit waren nicht getrennt, was für Dora Staudinger zur Leitschnur ihres Handelns wurde. Die religiös-bürgerliche Prägung ihres Elternhauses zeigte sich in der Deutung des eigenen weiblichen Tuns als Liebe, Hingabe und der Verpflichtung zur Vervollkommnung. Zu ihrem inhaltlichen Tätigkeitsfeld kam sie jedoch über ihre Heirat mit dem Chemiker Hermann Staudinger, Sohn einer Familie aus dem hessischem Bildungsbürgertum. Vater, Mutter und Brüder waren in der Sozialdemokratischen Partei engagiert, mehrheitlich im genossenschaftlich ausgerichteten Teil der Arbeiterbewegung.

Als junge Mutter und Professorengattin kam Dora Staudinger in Karlsruhe erstmals in Kontakt mit der Frauenbewegung. Höhepunkt war die Teilnahme am Deutschen Frauenkongress 1912 in Berlin, den sie unabhängig von Ehemann und Kindern besuchte. Sie zeigte sich begeistert von der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer. In den Vorträgen von Elly Heuss-Knapp zur Hauswirtschaft sprach sie insbesondere die Idee der Genossenschaft als ein grundsätzliches gesellschaftliches und wirtschaftliches Umgestaltungsprinzip an. Frauen als Kennerinnen der Hauswirtschaft, des Konsums, der Kindererziehung und des Wohnens sollten sich Konsum- und Baugenossenschaften anschliessen.

Wie sich Dora Staudinger eine eigene Position in der Frauenbewegung über die Verknüpfung von pazifistischem, religiös-sozialem und genossenschaftlichem Engagement erarbeitete, was zugleich die Emanzipation von der Rolle der zudienenden Professorengattin implizierte, ist das zentrale Thema der Untersuchung. Sie beginnt mit dem Umzug der Familie in die Schweiz, nachdem Hermann Staudinger auf eine Professur an der ETH berufen worden war. Das Ehepaar Staudinger-Förster verband bald eine enge Freundschaft mit dem in der Nähe wohnenden Ehepaar Ragaz-Nadig. Über Clara Ragaz kam Dora Staudinger zu direktem Kontakt mit Exponentinnen der Schweizer Frauenbewegung, Leonhard Ragaz motivierte sie zur Mitarbeit in der religiös-sozialen Publikation Neue Wege. Während das Engagement von Clara Ragaz bei der Etablierung der späteren Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF, englisch WILPF) schon vielfach beleuchtet wurde, verweist Ammann wohl erstmals auf die bedeutende Rolle, die Dora Staudinger beim Aufbau der Schweizer Sektion zukam. Sie vertrat radikale pazifistische Positionen, die dem sozialistischen Antimilitarismus zuzurechnen waren: Der Krieg sei nicht nur Ausdruck grösster Gewalt, sondern eine der gewalttätigsten Formen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die auch in «Friedenszeiten» Opfer fordere. Daher ermögliche nur eine neue solidarische Wirtschaftsorganisation einen dauernden Frieden. Trotz dieses radikalen Ansatzes verband sich Dora Staudinger in ihrem Engagement über Parteigrenzen hinweg mit anderen Kämpferinnen für die Rechte der Frauen. Selber liess sie sich an der von Maria Fierz geleiteten neuen Sozialen Frauenschule während zweier Jahre zur «Fürsorgerin» ausbilden, ohne davon vorerst eine professionelle Erwerbsmöglichkeit abzuleiten, wohl aber eine aktive Unterstützungstätigkeit für Familien in schwierigen Lebenssituationen. Das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse entsprach ihrer Vorstellung eines bedingungslosen Engagements. Aus Briefen Dora Staudingers an ihre älteste Schwester erarbeitet Ammann den Motor für dieses Engagement heraus: das Leiden an der Welt, das die eigenen Bedürfnisse relativiert.

Das aktive Engagement Dora Staudingers in der religiös-sozialen Bewegung zeigte sich auch in einer immer engeren Zusammenarbeit mit Leonhard Ragaz. Diese Zusammenarbeit trug in den 1920er Jahren wohl zu Clara Ragaz’ Distanzierung von Dora Staudinger bei, ebenso zu Hermann Staudingers Absetzung von seiner Frau, da er nun kaum mehr auf ihre Hilfe zählen konnte. Sie dagegen verband in ihrem wachsenden Einsatz in den Konsum- und Wohnbaugenossenschaften die privaten Erfahrungen als Hausfrau und Mutter mit politischen Ansprüchen. Ihre genossenschaftlichen Vorstellungen waren geprägt von der Idee eines solidarischen Wirtschaftens als Alternative zum Kapitalismus.
Als Propagandistin der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) gelang ihr eine fulminante Erhöhung der Mitgliederzahlen mit spezifischer Berücksichtigung armer Familien, als Feministin erreichte sie die Verankerung gesonderter Kommissionen für Frauen in der Genossenschaftsbewegung.

Ab 1925 bezog sie als Leiterin des Sekretariats des Vereins für Mütter- und Säuglingsschutz, der rechtlose ledige Schwangere unterstützte, erstmals einen Lohn. In ihrer fürsorgerischen Arbeit setzte sie systematisch anwaltliche Prinzipien um. So intervenierte sie scharf gegen die fürsorgerische Praxis der administrativ angeordneten Sterilisierung und Kindswegnahme sowie der Internierung oder administrativen Versorgung von unbemittelten Frauen. Mit dem Wahrnehmen der Bedürfnisse und Fähigkeiten lediger Schwangerer und alleinerziehender Mütter erwies sich Dora Staudinger als eine Pionierin in der Geschichte der Sozialen Arbeit.

Die Lohnarbeit bedeutete zugleich ein weiterer Schritt zur Abkoppelung von Hermann Staudinger. Die Scheidung erfolgte ein Jahr nach Beginn ihrer Berufstätigkeit. Nach der Verbindung und bald darauf erfolgten Heirat mit dem Kunstmaler Adolf Mohler kam es zum Bruch mit der ältesten Tochter, der Zuwendung zur kommunistischen Bewegung und Abgrenzung zu ihrem früheren religiös-sozialen Umfeld. Diese Phase des Lebens von Dora Staudinger wird in der Studie lediglich in einem Ausblick gestreift und in der Chronologie im Anhang kurz aufgeführt.

Es ist ein grosses Verdienst von Ruth Ammann, mit der vorliegenden Untersuchung nicht nur eine bedeutende Vertreterin des religiösen Sozialismus sichtbar gemacht zu haben. Vielmehr vermittelt sie zugleich Einblicke in Facetten der Geschichte der Genossenschaftsbewegung und der Entwicklung der Fürsorge, die bis anhin kaum aus der Perspektive eines frauenspezifischen Engagements für Minderbemittelte betrachtet worden ist.

Zitierweise:
Joris, Elisabeth: Rezension zu: Ammann, Ruth: Berufung zum Engagement? Die Genossenschafterin und religiöse Sozialistin Dora Staudinger (1886–1964), Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 190-192. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.